Haiku schreiben

Wenn Sie mich fragen, und Sie fragen mich gerade, wie man ein Haiku schreibt, dann würde ich in aller Kürze Folgendes sagen:

Beschreiben Sie in drei Zeilen mit insgesamt höchstens 17 Silben (–>1) ein Ereignis aus Ihrer Lebensumwelt (–>2), das bei Ihnen einen Gedankenblitz (–>3) ausgelöst hat.

Stellen Sie dem Leser das Ereignis unmittelbar hin, so dass er es für sich nachvollziehen kann. Nutzen Sie dafür das Präsens und eine einfache, konkrete Sprache (–>4).

Lassen Sie dem Leser die Möglichkeit, sich seine eigenen Gedanken zu machen. Verzichten Sie deshalb auf wertende Ausdrücke und abschließende Kommentare (–>5).

Wenn Ihnen das nicht reicht, dann habe ich hier jede Menge Erläuterungen anzubieten. Und für den Fall, dass jemand durch die Vielzahl der Tu-dies und Lass-das verwirrt ist, gibt's noch drei Tipps zum Schluss.

(1) 17 Silben

Praktisch alle Haiku-Einführungen beginnen mit dem wohlbekannten Satz „Ein Haiku besteht aus drei Zeilen mit der Silbenfolge 5-7-5.“ Tja, wir müssen jetzt alle ganz tapfer sein, es heißt Abschied nehmen: Ein deutschsprachiger Text bestehend aus 5 Silben in der ersten, 7 Silben in der zweiten und 5 Silben in der dritten Zeile ist kein Haiku.

Was ich damit sagen will:

1. Ein Text im 5-7-5-Silbenrhythmus kann ein Haiku sein, muss aber nicht. Ob's ein Haiku ist, hängt vom Inhalt ab.

2. Niemand muss sich sklavisch an die Silbenzählung halten. Es ist unnötig, Wörter zu verstümmeln oder künstlich zu verlängern, um die 17er-Vorgabe zu erfüllen. Von grammatikalischen Neuerungen und der Nutzung von Füllwörtern ganz zu schweigen.

Nun mögen Sie Punkt 1 noch einsehen, aber bei Punkt 2 lehnen Sie vielleicht dankend ab, weil das Kunststück, diese seltsame Regel einzuhalten, sehr faszinierend ist. Schließlich haben sich die Japaner jahrhundertelang daran gehalten. Abgesehen davon, dass dieses Kunststück auch Schulkinder vollbringen können, heißt es noch mal Abschied nehmen: Kein Japaner hat jemals Silben gezählt. Wenn sie überhaupt etwas gezählt haben, dann waren es die japanischen Laute ihrer Texte. Was soll das nun wieder heißen?

Die japanische Sprache hat einen festen Vorrat an Lauten bestehend aus Vokalen (a,e,i,o,u), unteilbaren Konsonant-Vokal-Verbindungen (shi, ka, wo u.a.) und dem Einzelkonsonanten N. Was in der transkribierten Form wie eine Silbe aussieht, hat nichts mit der Silbenbildung westlicher Sprachen zu tun. So hat zum Beispiel das Wort London zwei Silben, aber vier japanische Laute: Lo-n-do-n, und nur diese zählen beim japanischen Haiku. Wer also ehrwürdigen japanischen Traditionen folgen wollte, müsste Laute statt Silben zählen, mit fatalen Konsequenzen: „Ein Regentropfen“ hat fünf Silben, aber gnädig gezählt neun Laute.

Die scheinbar traditionellen Formen folgende Silbenregel ist ein Hilfskonstrukt, das vielleicht aufgrund von Missverständnissen, vielleicht aus Bequemlichkeit so ins Deutsche übertragen wurde. Die japanische Tradition, Gedichte in 5er- und 7er-Lautgruppen zu schreiben, ist gegründet auf den Eigenarten der japanischen Sprache. Das Deutsche hat völlig andere Eigenarten. Welche Form dem deutschsprachigen Haiku angemessen ist, bleibt eine offene Frage. Mein Vorschlag ist, drei Zeilen mit ungefähr (tendenziell weniger als) 17 Silben zu schreiben*. Die Zeilenlängen sollten vom Sprachrhythmus abhängen, den der Text verlangt, nicht von der Silben-Imitation eines japanischen Lautfolge-Rhythmus, den es im Deutschen nicht gibt.

* Ergänzung: Wie viel Silben braucht ein Haiku?

(2) Lebensumwelt

Das zweite Stichwort ist beim Haiku immer „Die Natur“. Die Arbeitsdefinition der Natur scheint zu sein: Alles was grün ist, blüht oder sonstwie lebt plus das Wasser vom Himmel, aber nicht der Mensch. Eine Straßenbahn voller Menschen ist keine Natur. Eine Straßenbahn voller Menschen und draußen schneit's ist Natur. Seltsam.

Ich meine, so selbstverständlich wie die Japaner des 17. Jahrhunderts über die Natur geschrieben haben, so selbstverständlich ist es für einen Menschen des 21. Jahrhunderts über das Leben in der Stadt oder mit den Massenmedien zu schreiben. Wichtiger als die Frage „Natur oder nicht Natur?“ ist die Unterscheidung innen und außen, allgemein und speziell. Nicht gefragt sind Beschreibungen aus dem Innenleben oder allgemeine Betrachtungen über den Zustand der Welt. Gefragt sind einzelne Ereignisse, die erlebt oder vorgestellt sein können.

Trotzdem bleibt „Die Natur“ ein Thema, das viele Chancen bietet. Die Beschäftigung mit der Natur lenkt vom Hineinhorchen in sich selbst ab. Die Einbeziehung der Jahreszeit erleichtert es, die Grundstimmung eines Haiku festzulegen und dem Leser ein schärferes Bild vor Augen zu führen. Ob der Regen ein Frühlings- oder Herbstregen, oder ob ein Wald winterlich oder sommerlich ist, macht einen gewaltigen Unterschied.

(3) Der Blitz

Blitz, Zen, Erleuchtung, Mystik, Quatsch. Wie immer beim Haiku ist alles ganz einfach. Wenn man den Kopf frei hat und bereit ist zu sehen, zu hören, zu riechen, zu fühlen und zu schmecken, dann sammelt man ganz von selbst eine Unmenge von Eindrücken. Die meisten vergisst man gleich wieder, aber einige wenige bleiben hängen. Davon wiederum führen einige Eindrücke dazu, dass in einem plötzlich eine Erkenntnis, ein Gefühl oder eine Frage aufflammt. Der Blitz.

Im Haiku gibt man die Sinneseindrücke wieder, die etwas in einem ausgelöst haben. Das können auch Szenen sein, die nur im Kopf entstanden sind, ausgelöst durch eine Beobachtung oder Erinnerung. Und natürlich muss man manches Ereignis frisieren, um es an die Kürze eines Haiku anzupassen oder um dem Leser eine Chance zu geben, zu erahnen, was der beschriebene Augenblick beim Autor ausgelöst hat.

(4) Einfach sein

Die Kunst bei einem Haiku besteht darin, einen Augenblick so komprimiert zu beschreiben, dass der Leser in ungefähr 17 Silben genug Details erfährt, um sich die Situation vor dem geistigen Auge vergegenwärtigen zu können.

Die Kunst eines Haiku besteht auch darin, den Leser gar nicht merken zu lassen, dass Kunst, die von Können kommt, mit im Spiel ist. Meiner Meinung nach sollte das Haiku im Vordergrund stehen, nicht der Haiku-Schreiber. Ein Haiku ist nicht dafür da, zu zeigen, wie clever jemand mit Sprache umgehen kann. Folglich sollte ein Haiku-Schreiber weitgehend auf Stilmittel wie Metaphern, Vergleiche oder eine verschlüsselnde Bildersprache verzichten, weil er sich damit vor sein Haiku stellt. Mit diesem Verzicht gewinnt das Haiku einen spontanen und authentischen Eindruck. Es ist nicht mehr der Text eines mehr oder weniger bekannten Dichters, es wird zum Augenblick, den der Leser selbst erlebt.

Ein Tipp: Um festzustellen, ob der beschriebene Augenblick für einen Leser nachvollziehbar ist, lassen Sie das Haiku ein paar Wochen liegen. Dadurch bekommen Sie selbst einen fremden Blick und können Ihr Haiku besser einschätzen.

(5) Sag's nicht

Ein Haiku soll sich im Leser entfalten, es soll offen sein für seine Gedanken und Assoziationen. Die Kunst des Nicht-Sagens macht ein Haiku zu einem guten Haiku. Die verführerischste Versuchung ist, ein Haiku in der dritten Zeile mit einem Kommentar abzuschließen. Dieses Abschließen reduziert ein Haiku auf drei Zeilen Lesetext, dabei lebt ein Haiku davon, nach drei Zeilen überhaupt erst anzufangen.

Um dem Leser zu helfen, ohne ihm eine Wertung vorzukauen, ist das wichtigste Stilmittel, zwei scheinbar unverbundene Bilder nebeneinander zu setzen. Ein Beispiel:

Mein Hund erschnüffelt / den Weg – liest Neuigkeiten / aus der Nachbarschaft.
Mein Hund erschnüffelt / den Weg – Drüben der Nachbar / holt die Zeitung rein.

Version 1 erklärt die Idee, die ein Hundehalter hatte, als er seinen Hund beim Morgengang beobachtete. Version 2 überlässt es dem Leser, die Bilder zu verbinden. Vielleicht entdeckt der Leser den Gedankengang für sich selbst, vielleicht entdeckt er etwas Anderes. Bei Version 1 bleibt das Haiku im Besitz des Schreibenden. Bei Version 2 gehört es dem Leser. Und so soll es auch sein, denn ein Haiku ist ein Geschenk. Der Leser soll es in Ruhe auspacken und nicht schon vorher wissen, was drin ist.

Drei Tipps zum Schluss

Es ist keine gute Idee, sich beim Haikuschreiben aufs Silbenzählen und seine eigene Sprachkunst zu verlassen, ohne sich mit den Haikuregeln auseinandergesetzt zu haben. Dabei kommen meist mehr oder weniger geistreiche Kurztexte heraus, die halt diesen komischen Silbenrhythmus haben. Trotzdem können die vielen Regeln verwirren und sich als Ballast erweisen. Deshalb zum Schluss drei einfache Tipps:

Es ist schwer, eine Sprache zu sprechen, wenn man sich zu sehr auf die grammatikalischen Regeln konzentrieren muss, deshalb: Lernen Sie die Regeln so gut, dass Sie sie vergessen können.

Es ist schwer, die Welt auf sich einwirken zu lassen, wenn man zu sehr mit den eigenen Wünschen beschäftigt ist, deshalb: Vergessen Sie, dass Sie ein Haiku schreiben wollen.

Es ist schwer, etwas zu vergessen, wenn man zu sehr daran denkt, etwas vergessen zu müssen, deshalb: Vergessen Sie, dass es etwas zu vergessen gibt.