Zwei Jahre für ein Haiku

In der Nacht des 1.August 2001 sitzt ein Mann auf seinem Balkon und schaut hoch zu den Sternen. Er sitzt auf dem mittleren von drei Balkonen im zweiten Stock knapp unterm Dach. Der Balkon ist unbeleuchtet, auch in der Wohnung dahinter ist es dunkel. Der Blick des Mannes wandert den Sternenhimmel entlang - mal hierhin, mal dorthin, dann wieder konzentriert er sich auf einen Himmelsausschnitt. Nach einiger Zeit kommt eine leichte Brise auf. Die Blätter der drei Linden auf der gegenüberliegenden Straßenseite rascheln. Abrupt wendet der Mann den Blick von den Sternen ab und schaut hinüber zu den Linden. Plötzlich lächelt er. Noch einmal schaut er hoch zu den Sternen, dann wieder zu den Linden. Sein Lächeln wird breiter.

Schließlich erhebt er sich und geht in die Wohnung. Eine Schreibtischlampe leuchtet auf. Sie wirft einen Lichtkreis auf den Schreibtisch, der direkt vor dem Balkonfenster steht. Der Mann nimmt einen kleinen Zettel, schreibt mit Bleistift einige Worte darauf und legt den Zettel auf die Computertastatur. Dann knipst er das Licht aus.

Date: Thu, 05 Aug 1999 12:17:12 +0200
From: c--- r--- <r---@i---.com>
To: hape@kraus.e.uunet.de
Subject: anfrage

sehr geehrter herr kraus,

i--- ist eine agentur für marken- und medienkonzepte in berlin. wir arbeiten zur zeit für die firma j--- und sind im rahmen der idee, zum allmorgendlichen kaffee haikus zum lesen anzubieten, auf ihre haikus gestoßen. da wir daran interessiert wären, ein paar ihrer haikus auf der j----website abzubilden, wäre es sehr schön, wenn sie mir mitteilen könnten, ob und zu welchen konditionen das möglich wäre.

mit bestem dank und gruessen aus berlin,
c--- r---

Nein, ich bekomme auch nicht jeden Tag so eine Anfrage, aber durch das Stichwort Berlin kann ich mir zusammenreimen, wie Frau R. ausgerechnet bei mir landet. Seit einigen Wochen veranstaltet der Berliner „Tagesspiegel“ einen groß aufgezogenen Haiku-Wettbewerb, der auch über die Website der Zeitung proklamiert wird. Und genau dort ist meine Website als Quelle zum Thema „Haiku schreiben“ angegeben.

Das war einfach. Nicht so einfach ist die Frage mit den Konditionen. Konditionen? Ich habe keine Ahnung, was ich für Haiku verlangen soll, die sowieso auf meiner Website veröffentlicht sind. Die Frage erinnert mich an die Geschichte mit der toten Katze: Ein Zen-Meister wird von einem Schüler gefragt, was das wertvollste auf der Welt sei, und er antwortet: „Eine tote Katze.“ „Warum eine tote Katze?“, fragt der Schüler. „Weil niemand sagen kann, was eine tote Katze wert ist“, antwortet der Meister.

Da ich zur Zeit andere Sorgen habe, als mir den Kopf über den Wert toter Katzen zu zerbrechen, entscheide ich mich für die einfachste Lösung. Frau R. möchte tote Katzen. Soll sie welche haben. Sie darf sich von meinen etwa 15 im Web veröffentlichten Haiku nehmen, was sie brauchen kann. Ein Link wäre nett, schreib ich noch und empfehle ihr meinen Kumpel Wersch, falls sie weiteren Haiku-Bedarf hat. Ich warne sie aber auch vor, dass der als Profi wahrscheinlich Mäuse für seine Haiku sehen will.

Tatsächlich schmeißt sich Frau R. gleich am nächsten Tag an Wersch ran. Es kommt zu Verhandlungen per Telefon und E-Mail, doch als er seinen Preis pro toter Katze nennt, ist erst mal Sendepause – bis zum 21. September 1999. An diesem Abend finde ich gleich zwei E-Mails von Wersch in meinem Postfach. Das erste kündigt Bewegung in der Berlin-Sache an. Das zweite bittet um einen Anruf, denn plötzlich brennt es.

Es stellt sich heraus, dass drei Bewerber im Rennen um das Haiku-Budget der Agentur I. sind, wobei Wersch die besten Karten hat. Die Agentur ist bereit, seine Forderungen annähernd zu erfüllen, will jedoch etwa 80 Winter-Haiku zur Auswahl haben und zwar sofort. So viele hat er nicht auf Lager und ich habe auch nur noch ein paar übrig. Wir vereinbaren, dass jeder an diesem Abend noch zehn bis fünfzehn Stück fabriziert, damit Wersch am nächsten Tag der Agentur die geforderten Haiku präsentieren kann.

So sitze ich am Abend des 21. September 1999 am Schreibtisch, um Haiku zu schreiben - Winterhaiku. Für mich ist das eine Premiere, denn üblicherweise entstehen meine Haiku nicht am Schreibtisch. Ich laufe halt durchs Leben, plötzlich macht es Klick, es rattert im Oberstübchen und nach ein paar Schleifarbeiten setze ich mich zu Hause hin und schreibe das Haiku nur noch auf. Da nicht aus jedem Klick ein Haiku wird, komm ich vielleicht auf drei oder vier pro Monat. Doch an diesem Abend sind 10 bis 15 gefragt – ohne dass ich einen Schritt vor die Tür setze.

Ich schlage mich tapfer. Die Nacht ist klar und kalt, das hilft etwas. Mehr als zehn Haiku schaffe ich nicht, doch Wersch ist zufrieden mit den angebotenen Stücken. Da er sich auch zahlenmäßig ausreichend gestärkt fühlt, geht er am nächsten Morgen mit den toten Katzen auf Mäusejagd. Die Agentur akzeptiert mehr als 60 unserer Haiku und lässt dafür einen Betrag springen, an den ich nicht im Traum gedacht hätte, als ich mich mit dem Problem der toten Katze befasste.

Weil ich nicht weiß, was ich von den Produkten halten soll, die auf so lebensferne Art zustande gekommen sind, lasse ich die Texte zunächst liegen und krame sie erst Anfang des neuen Jahres wieder hervor. Ich bin überrascht, was ich an Ideen aus dem hohlen Bauch hervorgebracht habe, aber vergessen machen können nur wenige Texte den Schreibtisch-Makel. Es gibt allerdings ein Haiku, bei dem ich hängen bleibe:

Klare Winternacht.
Die Sterne saugen alle
Bedeutung von mir.

Die Idee des Haiku gefällt mir, doch der Text hat einen großen Fehler: er besteht nur aus drei Zeilen. Oberflächlich betrachtet scheint das die richtige Länge für ein Haiku zu sein, aber ein Haiku, das nach drei Zeilen zu Ende ist, ist ein schlechtes Haiku. Und genau darin liegt das Problem des Textes. Mit den drei Zeilen wird alles gesagt: Ich fühle meine Bedeutungslosigkeit beim Anblick der Sterne. Punkt. Da ist kein Raum mehr für die Assoziationen des Lesers, da ist kein Raum mehr für seine Gedanken, da ist kein Raum mehr für seine Zeilen. Das, was ein Haiku ausmacht – aus einem äußeren Ereignis etwas im Leser zur Entfaltung zu bringen –, das wird hier verweigert.

Trotzdem, der Grundgedanke fasziniert mich und ich beschließe, weiter daran zu arbeiten. Es muss doch möglich sein, in einem Haiku das Gefühl der Bedeutungslosigkeit beim Blick in den Sternenhimmel zu vermitteln, ohne es auszusprechen. Muss es? Vielleicht ist es möglich, aber ein Haiku zu schreiben, um etwas Bestimmtes zu sagen, ist ein weiterer Schritt vom rechten Weg. Beim Haikuschreiben gibt es kein „um zu“. Es gibt nur den Augenblick, den man niederschreibt. Und diesen Augenblick lässt man kommen, man jagt ihm nicht hinterher. All das weiß ich, handele aber nicht danach. Was ich noch nicht weiß, ist, dass meine Jagd lang und erfolglos, aber nicht vergeblich sein wird.

Zwei alternative Versionen sind schnell geschrieben. Nur ist es schwierig zu sagen, ob sie wirklich den Kern der Sache treffen. Bei Haiku, die spontan entstehen, kann ich mich meist auf meine Intuition verlassen: Hab ich das Ereignis in der typischen Haikukürze sprachlich angemessen wiedergegeben, ist der Text gelungen. Doch hier gibt es kein Ereignis, hier gibt es nur die Sterne, den Schreibtisch und mich. Und ich kann mich nicht entscheiden. Mal bin ich glücklich mit den Alternativen, mal nicht. Im Mai 2000 ziehe ich schließlich die Notbremse und wende mich per Mail an Wersch. Ich stelle ihm mein Problem mit der ursprünglichen Fassung dar und frage, was er von den neuen Versuchen hält:

Klare Winternacht
So viele Sterne
So weit entfernt

Klare Winternacht.
Ich schau hoch zu den Sternen:
-

Wie so oft sind wir einer Meinung: er seiner und ich meiner. Die beiden Alternativen scheinen ihm im Vergleich zum Original deutlich schwächer, und schon gar nicht teilt er meine Meinung, dass das Original-Sternenhaiku zu explizit sei. Vielmehr meint er, aus dem Text „eine erstaunliche Mehrdeutigkeit in den paar Wörtchen“ herauszuhören, befürchtet allerdings auch, es mit einem Schwerhörigen zu tun zu haben: „Muss man germanistische Linguistik studiert haben, sich mit den teilweise unlösbaren und paradoxen Problemen der Bedeutung von Wörtern und Texten ... befasst haben, um diese weitere Ebene heraushören zu können?“ Anscheinend muss man, denn ich höre überhaupt nichts.

Wer nicht hören kann, muss gucken, wie eine alte Redensart sagt. Und so vergehen viele Blicke zum Sternenhimmel, bis ich die nächste Chance bekomme, mein Problem unter die Leute zu bringen. Im November 2000 eröffne ich auf meiner Website ein Haiku-Forum. Um das Forum zum Leben zu erwecken, unterbreite ich mein Sternen-Haiku-Problem. Die Resonanz ist bescheiden, doch eine Antwort bringt mich weiter:

RE: Ein Haiku - drei Varianten
Ingrid Kunschke, 24.11.2000 - 12:39:25
Stimmt, die erste Variante erklärt zuviel, für ein Haiku. Trotzdem geht davon eine merkwürdige Sog-Wirkung aus, die den anderen Dreizeilern fehlt. Ich habe versucht das Empfinden dieser „Nichtigkeit“ umzusetzen mit diesen Worten:
Klare Winternacht.
Für die Sterne hab ich nur
meinen Atemhauch.
...

Endlich versteht mich jemand, doch die angebotene Lösung scheint mir wiederum missverständlich zu sein, da man sie auch im Sinne von „ich pfeife auf die Sterne“ interpretieren kann. Trotzdem bringt sie mir eine kleine Erleuchtung: Ich bin nicht nur schwerhörig, sondern auch blind. So fixiert auf diese kleinen Lichtpunkte am Himmel habe ich das wichtigste Mittel im Haiku übersehen: Man nehme zwei Bilder und setze sie kontrastierend nebeneinander.

Die nächsten Tage bzw. Nächte verbringe ich damit, schielen zu üben. Einerseits schau ich zum Himmel, andrerseits auf die Erde, um ein Kontrastbild einzufangen. Am 6. Dezember ist es endlich so weit. Ich finde das zweite Bild und stürme ins Forum, um die gute Nachricht zu verbreiten. Nein, tut mir leid, das war gelogen. In Wahrheit schleppe ich mich blind, schwerhörig und reichlich verwirrt auf meine Haiku-Website und stammle hilfesuchend herum:

Ich glaub, ich hab’s
hape, 06.12.2000 21:42:12
... oder zumindest bin ich nah dran, vielleicht. Ich stand heute Abend an einer S-Bahn-Station, hatte einen Blick auf die Lichter der Stadt und plötzlich fing’s an zu rattern im Oberstübchen. Erstes Ergebnis:

Klare Winternacht.
Die vielen Lichter der Stadt,
doch dann schau ich nach oben ...

Zu lang, aber ich glaubte nicht, auf die „vielen“ verzichten zu können, sonst gäb es gar keinen Hinweis auf die Perspektive von oben, andrerseits war sowieso fraglich, ob es diesen Hinweis überhaupt gab. Außerdem klang „nach oben“ zu blass, „zum Himmel“ hätte die Zeile jedoch optisch noch weiter verlängert. Tja, also war’s das doch nicht? Immerhin hatte ich das kontrastierende Bild, das ich gesucht hatte. Schließlich gefiel mir dann auch das Präsens in der letzten Zeile nicht, weil man das auch als Futur verstehen kann und dann hätte ich kein einmaliges Ereignis, sondern eine Sache die sich immer wieder wiederholt. Kann mir noch jemand folgen?-) Über ein paar Zwischenschritte bin ich dann bei dieser Version gelandet:

Klare Winternacht.
Der Blick auf die Stadt, doch dann
schaute ich zum Himmel ...

Nach diesem ganzen qualvollen Hin und Her (dieses Haiku beschäftigt mich schon über ein Jahr): Ist es das jetzt? Ist es das nicht? Einmal denk ich Ja, einmal denk ich vielleicht, vielleicht auch nicht.
Kann jemand einem verwirrten Haikunista über die Straße helfen?-)

Wieder weist Ingrid Kunschke dem verwirrten Haiku-Schreiber den Weg. Wir einigen uns darauf, dass folgende Version die beste ist:

Klare Winternacht.
Die vielen Lichter der Stadt,
doch dann schau ich hoch ...

Ist damit meine Jagd beendet? Nein. Unbarmherzig nein. Ich habe zu viel in diesen Text gesteckt, um überhaupt ein klares Urteil über ihn fällen zu können. Daher befolge ich einen Rat, den ich selbst gern an andere verteile: Ich versuche, das Haiku zu vergessen, um es nach einigen Wochen oder Monaten noch mal mit „fremden Augen“ lesen zu können.

Das Jahr 2001 bringt für mich große Veränderungen, so dass ich keine Probleme habe, meinen Rat an mich selbst umzusetzen. Es entstehen in den folgenden Monaten allerdings auch kaum neue Texte. Mein Kopf ist so voll mit Plänen, Ideen und Grübeleien, da ist kein Platz mehr für Haiku.

Doch schließlich kommt der Tag – es ist ein heißer Tag –, der Tag des 1. August 2001. Und es kommt die Nacht – es ist eine milde Nacht –, die Nacht des 1. August 2001. In dieser Nacht ist der Himmel sternenklar. Ich sitze auf dem Balkon und erinnere mich auf einmal wieder an diese seltsame Geschichte mit dem Sternenhaiku. Wie lautet nochmal die letzte Version? Ich weiß es nicht mehr, kann mich nur noch an das unzufriedene Gefühl erinnern. Ich schau hoch zu den Sternen. Vielleicht verrät mir ja heute der Himmel eine neue Lösung. Ich schaue und schaue, doch nichts tut sich. Dann gibt es plötzlich einen Windstoß. Die Blätter der drei Linden auf der anderen Straßenseite rascheln. Ich sehe hinüber und muss lächeln. Das ist es! Ich werfe einen Abschiedsblick zu den Sternen, schau wieder zu den Bäumen und muss breit grinsen. Was habe ich nicht alles unternommen, um dieses eine Haiku zu schreiben, und jetzt ...

Ich stehe auf, gehe in die Wohnung und knipse die Schreibtischlampe an. Dann schreibe ich mit Bleistift auf einen kleinen Zettel:

klare Sommernacht
ich schau hoch zu den Sternen
raschelnde Blätter

Es ist nicht das, was ich gesucht habe, aber die Botschaft an mich ist eindeutig: Bleib auf der Erde und lass die Sterne Sterne sein. Ich lege den Zettel auf die Tastatur, um den Text gleich morgen einzutippen. Dann schalte ich das Licht aus.