Haiku-Wurzeln

»Wenn man sich mit der japanischen Kunst befasst, dann sieht man, wie ein unbestreitbar weiser und philosophischer und kluger Mann seine Zeit womit verbringt? Die Entfernung des Mondes von der Erde zu studieren? Nein. Die Politik Bismarcks zu studieren? Nein. Er studiert einen einzigen Grashalm.«

Vincent van Gogh in einem Brief an seinen Bruder Theo, 24.Sept. 1888

Durch die Liebe zur Natur, den Sinn fürs kleinste Detail und den Glauben an das Große im Kleinen hat die japanische Literatur die größte aller kleinen Gedichtformen hervorgebracht: das Haiku.

Die Haikuzeitrechnung beginnt mit Matsuo Basho (1644-1694), der mit seinen Haiku die klassischen Standards setzt: In einfachen Worten, die zusammen siebzehn japanische Lautsilben aufgeteilt im 5-7-5-Rhythmus ergeben, wird ein Augenblick eingefangen, oft ein beobachtetes Ereignis in der Natur, wobei die Einbeziehung der Jahreszeit für die Grundstimmung sorgt.

Der Haiku-Dichter begnügt sich damit, das Ereignis dem Leser unmittelbar hinzustellen, Kommentierungen oder kunstvolle Wortschöpfungen sind nicht gefragt. Die Haiku-Kunst besteht darin, das beschriebene Bild im Leser aufflammen zu lassen; der Leser soll es für sich selbst vervollständigen können und dadurch zurückfinden zum inneren Anlass des Haiku. Denn Haiku sind festgehaltene Augenblicke, die im Kopf bleiben, weil sie ein bestimmtes Gefühl erwecken, das eigene Weltbild bestätigen oder eine Sache plötzlich in einem anderen Licht erscheinen lassen. Der Leser soll die Möglichkeit haben nachzufühlen, was unausgesprochen, vielleicht sogar unaussprechbar, bei einem Haiku mittransportiert wird. Dabei kann er natürlich auch zu ganz anderen Ergebnissen kommen als derjenige, der das Haiku geschrieben hat.

Die beschriebene innere und äußere Form des Haiku hat in Japan eine lange Tradition. Schon in der ersten großen japanischen Gedichtsammlung aus dem 8.Jahrhundert, genannt Manyoshu (Sammlung der zehntausend Blätter), sind die Gedichte in Fünfer- und Siebener-Lautrhythmen gegliedert. Die vorherrschende Form ist das Tanka mit dem Rhythmus 5-7-5-7-7.

Auch die Vorliebe für die Schilderung von Ereignissen in der Natur im Wechsel der Jahreszeiten ist bereits sehr früh ausgeprägt. Im Jahr 905 wird die zweite große Gedichtsammlung - Kokinshu (Sammlung alter und neuer Gedichte) - zusammengestellt. Die ersten sechs von 20 Bänden bestehen aus Jahreszeitengedichten. In späteren Sammlungen wird dieses Prinzip beibehalten, wobei die Jahreszeitengedichte (fast ausschließlich in der Tanka-Form) einen immer größeren Raum einnehmen.

Im Vorwort der Kokinshu-Sammlung stellt Ki no Tsurayuki das Grundprinzip der japanischen Dichtung vor, an dem die Japaner über 1000 Jahre festhalten:

»Die japanische Dichtung hat als Samen das menschliche Herz, und ihr entsprießen unzählige Blätter von Wörtern. Viele Dinge ergreifen die Menschen in diesem Leben: sie versuchen dann, ihre Gefühle durch Bilder auszudrücken, die sie dem entnehmen, was sie sehen und hören.«

zitiert nach D. Keene, Japanische Literatur, 1962

Der nächste große Schritt in Richtung Haiku heißt Renga und ist ein bisschen peinlich, denn das Kettengedicht Renga war zuerst – ein Partyspiel. (Wer weiß, vielleicht geben die TV-Talkshows der Literatur der Zukunft wichtige Impulse ;-) Das Spielprinzip ist einfach: Der erste Spieler gibt einen Vers mit dem Lautsilben-Rhythmus 5-7-5(aha!) vor, der zweite antwortet mit einer 7-7-Folge, der nächste setzt wieder mit einem 5-7-5 fort usw.

»Im Renga soll der vorangegangene Gedanke vergessen und der nachfolgende nicht antizipiert, sondern lediglich der Strophe, die man vor Augen hat, eine weitere angefügt werden ... Die Zeit im Kettengedicht ist ein fortdauerndes Jetzt ohne Anfang und Ende, die Welt des Renga kennt kein Ganzes, sondern nur eine Ansammlung isolierter Momente.«

Shuichi Kato, Geschichte der japanischen Literatur, S. 228

Was im 13.Jahrhundert als Partyspiel der Schönen und Reichen beginnt, krabbelt durch die Jahrhunderte die Gesellschaftsschichten hinab. Dabei entsteht eine etwas komische, manchmal auch unanständige Variante: das Haikai Renga. Mit der Zeit beginnen einige Leute mit dem Lebensmotto "Allzeit bereit", Startverse im 5-7-5-Rhythmus zu sammeln. Der Startvers eines Renga heißt Hokku, womit wir wieder bei Basho wären. Seine Hokku sind in den Augen seiner Zeitgenossen so gut, dass sich daraus eine eigene Kunstform entwickelt.

Zu den bedeutendsten Haiku-Dichtern nach Basho zählen Buson (1716-1783), Issa (1763-1827) und Shiki (1867-1902). Tatsächlich ist es erst Masaoka Shiki, der Ende des 19. Jahrhunderts den Namen Haiku einführt. Unter diesem Namen verbreitet sich das größte aller kleinen Gedichte während des 20. Jahrhunderts in der ganzen Welt, wobei es besonders in Nordamerika auf große Resonanz stößt. Legendär ist der erste Haiku-Wettbewerb, den Japan Air Lines 1964 in den USA veranstaltet: Über 41.000 Beiträge werden eingesandt.

Die weltweite Verbreitung des Haiku führt immer wieder zu Diskussionen über die Haiku-Regeln. Dabei stehen sich meist zwei Haltungen gegenüber: Das Festhalten an den klassischen japanischen Standards und die Anpassung an die jeweilige Sprache und Lebenswelt der Haiku-Dichter. Wie auch immer dieser Streit ausgeht, eins steht fest: Das Haiku wird auch im 3. Jahrtausend seinen festen Platz haben, oder kennt jemand eine literarische Form, die besser fürs Internet geeignet wäre?

»Schau mal, ist das, was die Japaner zeigen, nicht beinah eine wahre Revolution, diese einfachen Japaner, die wie Blumen in der Natur leben?«

Vincent van Gogh in einem Brief an seinen Bruder Theo, 24.Sept. 1888