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Zeitverschwindung
Dienstagabend. Nr. 1 ist nach der Arbeit noch einkaufen
gewesen, jetzt sitzt er in der U-Bahn auf dem Weg nach Hause. Eine Plastiktüte
zwischen die Füße geklemmt schaut er aus dem Fenster, sieht
sein Spiegelbild und sieht es nicht: er ist immer noch bei der Arbeit.
Es hat Ärger gegeben wegen der Schichtplanung. Nr. 1 arbeitet in
einer Druckerei. Er ist ein alter Hase in diesem Geschäft, aber mit
seinen knapp 50 Jahren verträgt er die häufigen Schichtwechsel
nicht mehr so gut. Und morgen ist Frühschicht; fünf Uhr aufstehen;
das nackte Grauen.
"Noch 18 Tage", denkt er. "Noch 18 Tage". Dann hat
Nr. 1 Urlaub. Zwei Wochen Madeira: nur die Blumen, die Sonne und er.
Müde schaut er sich in der U-Bahn um. Ihm gegenüber, drei Reihen
weiter, sitzt auf der anderen Seite des Gangs Nr. 2 und liest Zeitung.
Seine Haare sind angegraut und zu einem Pferdeschwanz gebunden. Er trägt
einen ordentlich gezwirbelten Kaiser-Wilhelm-Schnäuzer. Neben ihm
liegen die Innenteile der Zeitung.
"Was ist das für ein Penner? Liest jetzt noch die Samstagszeitung."
Nr. 1 schaut missmutig hinüber. Aus dem Zeitungspacken ragt die bunte
Wochenendbeilage. In der Hand hält Nr. 2 den Hauptteil, liest die
erste Seite, so dass Nr. 1 nur die Rückseite des Bogens mit Wetterbericht
und Comics sehen kann.
Plötzlich dreht Nr. 2 den Bogen herum und Nr. 1 wird mit einem Schlag
hellwach. "Flugzeug über Madeira explodiert: 180 Tote"
lautet die Schlagzeile. Daneben ein Bild: ein auseinandergebrochenes,
brennendes Flugzeug im freien Fall.
"Wann war das denn?" Nr. 1 versucht sich zu erinnern, aber es
fällt ihm nicht ein. Er guckt noch mal auf den Zeitungspacken. Es
muss die Samstagsausgabe sein. "Von wann ist die? Nee, so ein Penner,
liest eine steinalte Zeitung. Der sollte lieber arbeiten gehen. Oder der
ist Lehrer. Die arbeiten ja auch nicht."
Plötzlich bemerkt er, dass die Bahn in seinen Haltebahnhof einfährt.
Rasch steht er auf, packt seine Plastiktüte und strebt der Tür
zu. Er geht an Nr. 2 vorbei, ihre Blicke begegnen sich, Nr. 2 lächelt,
Nr. 1 schaut weg, die Bahn hält.
Nachdem er ausgestiegen ist, fühlt er den Blick von Nr. 2 in seinem
Rücken. Doch er dreht sich nicht um. "Ich muss mir mal die letzten
Samstagsausgaben angucken. So alt kann die Zeitung nicht sein, aber wieso
erinnere ich mich nicht daran? Mit Madeira, das hätte mir doch auffallen
müssen."
Grübelnd geht Nr. 1 nach Hause. Kaum schließt er die Wohnungstür
hinter sich, klingelt das Telefon. Nr. 3 - seine Ex-Frau - unterhält
ihn eine Stunde lang mit ihren Sorgen und Nöten. Und als ihm die
Zeitung wieder einfällt, ist es schon zehn und er erinnert sich,
dass er letztes Wochenende die Zeitungen in den Keller geschafft hat und
dann ist er nur noch müde und geht schlafen.
Samstagmorgen. Nr. 1 wacht auf. Er schaut auf den Wecker: halb sieben.
Zu früh zum Aufstehen, aber er weiß, wieder einschlafen ist
nicht drin. "Vielleicht kann ich die Zeitung im Bett lesen."
überlegt er. "Hoffentlich ist der Alte schon auf, aber der
ist ja immer auf."
"Der Alte" ist Nr. 4, Rentner, Ex-Versicherungsangestellter,
der praktisch sein ganzes Berufsleben jeden Tag um halb sechs aufgestanden
ist und diese Angewohnheit bis heute nicht abgelegt hat. Die Schreianfälle
von Nr. 5, die mindestens einmal die Woche deswegen fällig sind,
bohren sich durch alle vier Stockwerke.
Wenn Nr. 1 Glück hat, dann ist Nr. 4 auch heute früh wieder
hinunter gegangen, hat die Zeitungen hereingeholt und ihm die seine
vor die Tür gelegt.
Nr. 1 rappelt sich auf, tappt durchs Schlafzimmer, über den Korridor,
horcht kurz an der Tür, macht sie vorsichtig einen Spalt auf, linst
hinunter. "Na, Gott sei dank", denkt er und zuckt plötzlich
zurück, als ob er einem Schlag ausweichen wollte.
"Das gibt's nicht", sagt er laut. So laut, dass er sich erschreckt
hätte, wenn seine ganze Aufmerksamkeit nicht von der auf der Matte
liegenden Zeitung eingefangen worden wäre. Er greift ruckartig
nach der Zeitung, schlägt die Tür zu und betrachtet ungläubig
die Titelseite: "Flugzeug über Madeira explodiert: 180 Tote".
Daneben ein Bild: ein auseinandergebrochenes, brennendes Flugzeug im
freien Fall.
Plötzlich knallt im Flur eine Tür und Nr. 1 setzt sich in
Bewegung. "Das kann nicht wahr sein", sagt er. Krampfhaft
sucht er nach einer Erklärung. Er will sich gerade an den Küchentisch
setzen, als er auf das Datum der Zeitung schaut: 10. August 2003. Entsetzt
schmeißt er die Zeitung auf den Tisch.
"Ja, spinn ich!" Er guckt auf den Wandkalender: August 2003
ist das aktuelle Blatt. Er glaubt es nicht, Schweiß bricht ihm
aus. Er rennt durch den Korridor, reißt die Wohnungstür auf,
läuft über den Flur. Vor der Nachbarwohnung liegt die gleiche
Zeitung. Er rennt weiter, klingelt bei Nr. 4, klopft wild an die Tür.
"Nr. 4!" schreit er.
Von drinnen kommt dumpf die Stimme von Nr. 4 und das spitze Geschrei
von Nr. 5. Nr. 1 klingelt Sturm, klopft wie ein Wahnsinniger. Nr. 4
reißt die Tür auf, die Schläge gehen plötzlich
ins Leere.
"Was soll das, Nr. 1? Hast du nicht mehr alle Tassen im Schrank?",
schreit er.
"Den wievielten haben wir heute?", fragt erregt Nr. 1.
"Was? Sag mal, spinnst du?"
"Den wievielten haben wir heute?"
Nr. 4 starrt ihn verwundert an. "Den 10. August", sagt er
auf einmal ganz ruhig.
"Das kann nicht sein, das kann doch nicht sein. Es ist doch erst
April, Dienstag, der Typ, wir haben April, APRIL!"
"Habt ihr den Verstand verloren? Was schreit ihr denn da draußen
so rum?", mischt sich Nr. 5 vom Schlafzimmer aus ein.
"Sag mal, was ist los, Nr. 1?", fragt leise Nr. 4.
"Das gibt's nicht, das gibt's nicht", flüstert Nr. 1.
"Das ..."
"Ja, was denn?"
Nr. 1 schaut Nr. 4 fest an und fragt kaum hörbar: "Wann flieg
ich nach Madeira?"
Nr. 4 schüttelt den Kopf: "Nr. 1, du warst im Mai auf Madeira."
Nr. 1 weicht zurück, hält sich am Geländer fest.
"Ich erinner mich nicht. Es ist April, es ist doch April",
flüstert er.
Nr. 1 lässt sich auf der Treppe nieder. "Dieser Typ mit der
Zeitung. Die Zeit kann doch nicht schon rum sein. Ich erinner mich nicht.
Ich kann mich nicht ... erinnern."
Anmerkungen:
"Zeitverschwindung" und "Katz, Maus, Zeitung" basieren beide auf der gleichen Grundidee, die ich mal in einem Gedicht skizziert hatte: jemand beobachtet mitten in der Woche einen Mitfahrer in der Straßenbahn beim Lesen einer Samstagszeitung und wird am folgenden Samstag mit der unbegreiflichen Tatsache konfrontiert, dass die Zeitung aus der Zukunft stammte. Hier hab ich die Bedingungen noch verschäft, indem ich Nr. 1 in ein Zeitloch fallen ließ. Die ursprüngliche Version hatte noch "richtige" Namen, aber ich meine, die Nummern geben der Geschichte einen zusätzlichen Touch an wirklicher Unwirklichkeit. |
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