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Herr Kopanke, seine Frau, Frau Schultz, Frau Meinhardt und Familie Ludwig
Herr Kopanke steht vor dem Spiegel in der Diele. Er rückt noch mal die Krawatte zurecht, greift rechter Hand zu seiner Aktentasche, winkt linker Hand ins Schlafzimmer, sagt "Tschüss, Schatz", und bevor er die Klinke der Wohnungstür ergreift, kommt aus dem Schlafzimmer ein dumpfes "Tschüss, Schatz"-Echo.
Seine Frau.
Herr Kopanke öffnet die Tür, geht hindurch und schließt sie sehr behutsam. Er geht den Flur entlang, die Treppe hinunter, wendet, die Treppe hinunter, wendet, die Treppe hinunter, wendet, die Treppe hinunter, wendet und ist auf dem Gang im Erdgeschoss, als er die halboffene Tür bei Frau Schultz sieht.
Frau Schultz ist eine Mittvierzigerin, die seit etwa zwei Jahren in diesem Haus wohnt. Herr Kopanke zögert kurz. Sicher ist Frau Schultz nur kurz im Flurvorraum die Zeitung holen, deshalb möglicherweise nicht ganz gesellschaftsfähig gekleidet. Er geht aber doch weiter, bis sich die Tür zum Flurvorraum öffnet und Frau Meinhardt im Morgenmantel erscheint. Da bleibt er stehen und wird so weiß wie sein Hemd.
Frau Meinhardt erblickt ihn, sagt lächelnd "Guten Morgen, Herr Kopanke. Wieder auf dem Weg zur Arbeit, na Gott sei dank haben wir alten Leute das hinter uns, obwohl manchmal fehlt’s einem, nicht mehr so unter Menschen zu sein, doch ich beklage mich nicht, weiß Gott nicht, ich wünsche Ihnen einen schönen Tag." und schließt hinter sich die Tür zu Frau Schultz’ Wohnung.
Herr Kopanke starrt die geschlossene Wohnungstür an. Schließlich macht er kehrt, wendet, geht die Treppe hinauf, wendet, geht die Treppe hinauf, wendet, geht die Treppe hinauf, wendet, geht die Treppe hinauf, den Flur entlang, nestelt in seiner rechten Hosentasche nach dem Schlüssel, hat ihn und lässt ihn fallen.
Herr Kopanke bückt sich nach dem Schlüssel, will ihn ins Schlüsselloch stecken, verfehlt es, will ihn ins Schlüssellloch stecken, verfehlt es, trifft es, dreht den Schlüssel herum, öffnet die Tür, geht hinein, lässt die Tür auf, tritt ins Schlafzimmer und sagt: "Du Schatz, wie lange ist Frau Meinhardt jetzt tot?"
Seine Frau dreht sich schlaftrunken um. "Bitte?"
Herr Kopanke wiederholt: "Wie lange ist Frau Meinhardt jetzt tot?"
Seine Frau sieht ihn an. "Was ist los mit dir? Du bist ja ganz blass."
Herr Kopanke wird ungeduldig. "Sagst du mir jetzt endlich, wie lange sie schon tot ist?"
Seine Frau schaut ihn zweifelnd an. "Wieso interessiert dich ..."
Herr Kopanke ist außer sich. "Meine Güte, kannst du mir nicht eine einfache Frage beantworten?"
Seine Frau runzelt die Stirn. "Ich weiß wirklich nicht, was du hast. Du musst nicht gleich ausfällig werden. Sie ist seit drei Jahren tot. Frau Schultz wohnt seit mehr als zwei Jahren hier und davor stand die Wohnung fast ein ganzes Jahr leer. Bist du nun zufrieden?"
Herr Kopanke ist augenblicklich besänftigt. "Entschuldige, Schatz. Ich habe gerade an Frau Meinhardt gedacht und konnte es mir nicht mehr zusammenreimen. Das fand ich sehr ärgerlich. Du weißt, so etwas macht mich nervös. Ich will nicht so enden wie mein Vater. Danke dir, Schatz. Ruh dich noch ein wenig aus. Ich geh dann jetzt. Tschüss, Schatz."
Seine Frau antwortet nachdenklich "Tschüss".
Herr Kopanke hat sich schon umgedreht, geht durch den Korridor, durch die offenstehende Tür, zieht den Schlüssel ab, steckt ihn in die Hosentasche, schließt die Tür sehr nachsichtig, geht den Flur entlang, die Treppe hinunter, wendet, die Treppe hinunter, wendet, die Treppe hinunter, wendet, die Treppe hinunter, wendet und ist auf dem Gang im Erdgeschoss, als er die halboffene Tür bei Frau Schultz sieht.
Herr Kopanke bleibt mit offenem Mund stehen. Da öffnet sich die Tür zum Flurvorraum.
Frau Schultz kommt im Morgenmantel herein, erblickt Herrn Kopanke und legt sofort los: "Das ist wirklich unglaublich, bei mir fehlt schon wieder die Zeitung, bei allen steckt sie im Postkasten, nur meine fehlt, das geht jetzt schon seit drei Tagen so, jetzt ist aber Schluss, ich werde dieses Bauernblatt kündigen, da können die sich drauf verlassen."
Frau Schultz sieht Herrn Kopanke besorgt an. "Ist Ihnen nicht gut?"
Herr Kopanke fasst sich. "Ach, nein, ich habe meine Tabletten vergessen. Entschuldigung." Und dreht sich um, wendet, geht die Treppe hinauf, lauscht, wendet, geht die Treppe hinauf, lauscht, unten knallt die Tür zu, er bleibt stehen, lauscht und geht leise wieder hinunter.
 
Familie Ludwig, bestehend aus Herrn Ludwig, Frau Ludwig und dem siebenjährigen Christian, hatte nur wenig Hoffnung, als sie pünktlich um 15 Uhr in der Bank erschien, um mit ihrem Kundenberater über ihre Baufinanzierung zu sprechen.
Herr Kopanke erwies sich jedoch als zuvorkommend, fahrig, freundlich, durcheinander und genehmigte ihren Finanzierungsplan trotz zweifelhafter Sicherheiten und Frau Ludwigs windiger Gehaltsnachweise.
Familie Ludwig verließ erleichtert die Bank bis auf den siebenjährigen Christian, der ausgenommen fröhlich die Bank verließ, weil der Herr ihm einen Hausbaukasten geschenkt hatte. Herrn Ludwig waren die Blicke Herrn Kopankes nicht entgangen, die dieser seiner Frau zuwarf. Frau Ludwig war wirklich sehr attraktiv – glaubte Herr Ludwig –, aber er hatte sich schon zusammenreißen müssen, um keine den Vertrag gefährdende spitze Bemerkung zu machen.
Herr Kopanke dachte immer nur: "So muss Frau Meinhardt in jungen Jahren ausgesehen haben."
Familie Ludwigs Haus brannte drei Jahre später ab und einige Nachbarn schworen, sie hätten in der Nacht nach dem Brand eine alte Frau in den Trümmern herumgeistern sehen. Aber wer glaubt schon an Gespenster?
Herr Kopanke übrigens endete wie sein Vater.
 
Anmerkungen:
Dies war eine Art Klimperübung oder Etüde, wie vornehme Leute sagen. Die Kernidee - jemand sieht eine lang verstorbene Nachbarin im Haus - sollte so erzählt werden, dass jeder Absatz mit einer der beteiligten Figuren beginnt. Diese wiederum bildeten in der Reihenfolge des Erscheinens den Titel. Warum dieser Schnickschnack? Gute Frage.
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