Zeigen und schweigen

Haiku ist ein seltsames Phänomen. Es ist mehr als dreihundert Jahre alt und trotzdem sms-kompatibel; es ist urjapanisch, aber in der ganzen Welt verbreitet; es ist ein See, in dem eine Mücke baden und ein Elefant ertrinken kann – wie ein indisches Sprichwort über das Schachspiel sagt.

Die Geburtsstunde des Haiku datiert im Japan des 17. Jahrhunderts. Zu jener Zeit war unter den Dichtern des Inselreichs eine Form des Kettengedichts namens Haikai Renga sehr populär, das auf Einladung eines Gastgebers an einem Abend verfasst wurde. Dabei musste der erste Vers einen Bezug zu Zeitpunkt und Gastgeber des Treffens haben. Gelöst wurde dies durch einen Jahreszeitbezug und ein Bild aus der Natur, das den Gastgeber ehrte. Dieser erste Vers bestand aus drei Wortgruppen zu fünf, sieben und fünf japanischen Lautsilben.

Einer der größten Haikai Renga-Meister war Matsuo Basho (1644 - 1694). Seinem dichterischen Schaffen ist es zu verdanken, dass sich der erste Vers verselbständigte. Unter anderem schrieb Basho das meistzitierte Haiku der Literaturgeschichte: „der alte Teich / ein Frosch springt hinein / vom Wasser ein Geräusch“.

Dieser Prototyp zeigt alles, was man zum Schreiben braucht. Außerhalb Japans wird ein Haiku meist als Dreizeiler (nicht betitelt) mit einer je nach Sprache flexiblen Silbenzahl geschrieben. Im Englischen sind elf bis dreizehn Silben Standard, im Deutschen sollte man versuchen, unter siebzehn Silben zu bleiben.

Leider trifft man vor allem im Internet immer wieder auf Einführungen, die auf eine fünf-sieben-fünf-Silbenverteilung bestehen. Im deutschen Haiku ist dies jedoch nur eine von vielen Möglichkeiten; japanische Lautsilben entsprechen jeweils einer gleichen Zeiteinheit, deutsche Silben nicht. Wo im Japanischen durch die Silbenverteilung ein Rhythmus entsteht, ist im Deutschen nichts davon zu spüren. Es empfiehlt sich deshalb, die Zeilen entsprechend dem deutschen Sprachgefühl zu gliedern und nicht nur Zahlenwerte zu imitieren.

Wichtiger als Silbenzählen ist auf jeden Fall der Inhalt eines Haiku. Traditionell sind Haiku Naturgedichte: der Sprung eines Frosches, die bunte Sommerwiese, das fallende Blatt, der erste Schnee. Haiku wurden und werden entlang den Jahreszeiten geschrieben. Inzwischen ist das Konzept des Haiku jedoch wesentlich offener: der Straßensänger, das lachende Kind, die Autos im Stau, das Flugzeug am Himmel. Auch dies können Themen für ein Haiku sein.

Wofür im Haiku jedoch kein Platz ist, das sind innere Monologe, Selbstbeschau, Wortspielereien oder allgemeine Statements zur Lage der Welt. Ein Haiku ist immer konkret, es gibt einen Augenblick wieder, der mit den Sinnen wahrgenommen wurde und teilt diesen mit dem Leser, ohne ihn zu kommentieren. Erst der Leser vollendet das Gedicht, indem er seine Gefühle und Assoziationen dazu entfaltet. Ein Haiku zu schreiben heißt, eine Knospe hervorzubringen; ein Haiku zu lesen bedeutet, die Knospe zur Blüte zu entfalten.

Dieses Wechselspiel kann für einen ambitionierten Lyriker schwer zu ertragen sein, denn daraus folgt, dass der Schreiber eines Haiku möglichst im Hintergrund bleibt. Sprachliches Glitzern und Glänzen, phantasievolle Aneinanderreihungen von Metaphern und Vergleichen oder originelle Kommentare sind nicht gefragt, denn damit rückt sich der Schreiber in den Vordergrund. Die Kunst des Weglassens, des Nichtsagens, der Mut zur Einfachheit sind die Merkmale eines guten Haiku.

Und wie fängt man nun an? Ein paar Versuche am Schreibtisch – gnadenhalber auch mit fünf-sieben-fünf-Stützrädern – sind sicherlich gestattet, aber dann heißt es hinaus aus dem Dichterturm, hinein in die Welt: Sehen, hören, riechen, schmecken, fühlen und die Augenblicke, die hängen bleiben, weil sie eine Saite zum Klingen gebracht haben, diese Augenblicke möge man seinem Leser zeigen und dann – schweigen.