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10. Entzug
Wie der Überschrift unschwer zu entnehmen
ist, werden in diesem Kapitel Beispiele zur Entfesselung durch den
Wegzug der gefesselten oder der dahinterstehenden Figur vorgestellt.
Am Anfang stehen „Entzüge“
der gefesselten Figur, die auf Mattmotiven beruhen. Dann folgen
andere taktische „Ausreden“ für die Flucht aus der
Fesselung, und zum Schluss soll demonstriert werden, dass auch die
kombinatorischen Möglichkeiten der Zielfigur bei der Suche
nach Entfesselungschancen beachtet werden müssen.
Im Übrigen möchte ich darauf hinweisen,
dass auch für den geschätzten Leser bald die „Entfesselung“
naht, denn wir sind schon im letzten Lehrkapitel dieses Buches angelangt.
Im Schlusskapitel folgt als versöhnlicher Abschluss noch eine
kunterbunte Fesselungsmischung, die rein unterhaltenden Charakter
hat. Ein bisschen Spaß muss ja auch sein. Doch nun zu unserem
ersten Beispiel:
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Dia 105:
Seekadettenmatt
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Das Seekadettenmatt, benannt nach einer Operette, in der es mit lebenden Figuren aufgeführt wurde, basiert auf einer Vorgabepartie des französische Meisterspielers Kermur de Legal. Es ist wohl das älteste und bekannteste Entfesselungsmotiv: 1.Sf3xe5! Lg4xd1? 2.Lc4xf7+ Ke8-e7 3.Sc3-d5 matt. Natürlich
durfte Schwarz das Scheinopfer der Dame nicht annehmen, sondern
musste sich in den Bauernverlust 1. ... d6xe5 2.Dd1xg4 fügen.
Das Grundmotiv ist immer das gleiche:
Der Sf3 wird „kalt lächelnd“ aus der Fesselung vor
der Dame gezogen und schlägt auf e5. Das Matt bei Annahme des
Danaergeschenks erfolgt unter Ausnutzung des Schwachpunktes
f7. Hüten sollte man sich, den „Trick“ mit einem Springer auf c6 (statt eines Bauer auf g6) anzuwenden, wie in der Originalpartie von Kemur de Legal, denn dann gewinnt 1. ... Sc6xe5 schlicht eine Figur, was jedoch Legals unbedarftem Gegenspieler entging.
Trotz seines großen Bekanntheitsgrades
findet der Entfesselungszug von Legal auch heute noch immer neue
Opfer, oder wie Dr. Tartakower in solchen Fällen süffisant
anzumerken pflegte: „Die Fehler sind alle schon da. Sie müssen
nur noch gemacht werden.“
Ein Beispiel aus neuerer Zeit:
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Dia 106:
Malich - Silberstein
Simferopol 1985
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Als Schwarz seinen
Springer nach e5 zog, wird er die Drohung c5-c4 und die Zerstückelung
des Königsflügels durch Schlagen auf f3 im Auge gehabt
haben. 1.Sf3xe5! bescherte ihm ein böses Erwachen. Wenn
er das Opfer nicht annimmt, bleibt er mit einer Figur im Hintertreffen,
ansonsten wird er nach 1. ... Lg4xd1 mit 2.Lb3xf7 mattgesetzt.
Nun könnte man scherzhafterweise behaupten,
dass das Matt von Legal der einzige „legale“ Entfesselungszug
ist. Dem ist natürlich nicht so, auch wenn es beim nächsten
Beispiel auf den ersten Blick nicht mit rechten Dingen zuzugehen
scheint.
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Dia 107:
Maric - Gligoric
Belgrad 1962
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In dieser verlustträchtigen
Stellung verzauberte der jugoslawische Vorkämpfer Gegner und
Publikum mit 1. ... Tc3-b3!!. Da die Grundreihenschwäche
den Tf5 kostet, gab sich Weiß sofort geschlagen.
Dass Frauen nicht nur sehr fesselnd sein
können, sondern auch auf dem Gebiete der Entfesselung Großes
zu leisten imstande sind, zeigt das nächste Beispiel:
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Dia 108:
Battsetseg - Mora
Damenturnier Danzig 1991
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Die unscheinbare Fesselung der schwarzen Dame erwies sich als spielentscheidend.
Mit 1.Sd3-e5! befreite Frau Battsetseg den Springer aus seiner
Fesselung und setzte noch zwei Mattdrohungen obenauf. Das Matt 2.Se5xf7
konnte Schwarz mittels 1. ... Ta8-a7 abwehren, doch gegen
2.Se5-g4 war kein Kraut gewachsen.
In den beiden folgenden Beispielen wird der
Mattangriff der gefesselten Figur dadurch erschwert, dass die Fesselung
eine absolute ist, wie man gemeinhin jene vor dem König zu
bezeichnen pflegt. Des Rätsels Lösung besteht in der Unterbrechung
der Angriffslinie zwischen der gefesselten Figur und dem König.
Diagramm 109 ist jedoch nicht nur in kombinatorischer Hinsicht interessant,
deshalb möchte ich hier Mednis Originalkommentar aus seinem
originellen Werk „Die Macht des Königs im Schach“
zitieren.
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Dia 109:
Mednis - Collins
New York 1954
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„Diese Partie
habe ich noch gut in Erinnerung. Ich spielte sie recht gut, und
trotz mehrmaligen Auslassens von Gewinnzügen erreichte ich
diese schöne Stellung. Ich hatte aber nun kein Vertrauen mehr
in meine Stellung und entschloss mich, eine ‚glänzende’
Remiskombination zu machen: 1.Th3xh7+!! Kh8xh7 2.Df6-h4+
Kh7-g6 3.Dh4-g4+. Könnte er nun seinen Turm benutzen, würde
Weiß leicht mattsetzen. Es geht aber nicht – der Turm ist
ganz entschieden gefesselt. Darum stimmte ich hier dem Remis (??)
zu. Später zeigte ich die Partie und Kombination dem Internationalen
Meister Al Horowitz. Er schaute einen Augenblick auf die Stellung,
sagte: „Sie haben eine glänzende Gewinnkombination gemacht“,
und spulte rasch die nächsten Züge ab: 3. ... Kg6-h7 4.Dg4-h3+
Kh7-g6 5.Dh3-g2+ Kg6-h7 6.Tf3-h3 matt. Einfach und klar – wenn man
es weiß!"
So weit Edmar Mednis. Kurios ist, dass es sich hier um einen doppelten Fall von Schachblindheit handelt, denn nach 3. ... Kg6-h7 wäre 4.Dg4-h5# „überzeugender“. Möglicherweise hat jedoch Meister Horowitz die Zugfolge mit 3. ... Kg6-h6 demonstriert, dann hat die treppenartige Entfesselung voll und ganz ihre Berechtigung.
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Dia 110:
Tavernier - Grodner
Charleville 1952
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Was mit den eigenen
Figuren geht – die Unterbrechung der Angriffslinie –, das geht natürlich
auch mit den gegnerischen. In der Diagrammstellung fühlte sich
der weiße Turm nach 1. ... h5-h4+ 2.Kg3-g4 f7-f5+ geradezu
magnetisch vom Bf5 angezogen. Da die Folge jedoch 3.Ta5xf5 Tc2-g2
matt gewesen wäre, gab Weiß auf.
Wenn man es auf die Spitze treiben will, könnte man sagen,
die Anziehungskraft des Bauern hatte für den Anziehenden wenig
Anziehendes.
Damit verlassen wir das Thema der Entfesselung durch Mattdrohung
und wenden uns wie angekündigt anderen taktischen Ausreden
für den „Entzug“ der gefesselten Figur zu.
Das erste Beispiel ist sehr einfacher Natur, doch besitzt es große
praktische Bedeutung.
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Dia 111:
Asztalos - Nielsen
Schacholympiade 1936
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Die wichtigsten Merkmale
dieser Fesselung sind: Die Zielfigur ist nicht wertvoller als der
Angreifer und zieht auf der gleichen Angriffslinie. Der Angreifer
selbst steht ungedeckt. Diese Zutaten reichen aus, um aus einer
Fesselung einen Abzugsangriff werden zu lassen, wie Nielsen sogleich
demonstriert:
1. ... Td3-d1+ 2.Kg1-f2 Ld5xf3, und
Weiß hat den Verlust eines Springers zu beklagen. Das Verfahren,
die gefesselte Figur so abzuziehen, dass sie gleichzeitig das Ziel
deckt, sollte sich der Leser gut einprägen.
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Dia 112:
Krogius - Sergiewski
UdSSR 1959
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Die Zutaten in dieser
Partiestellung sind dieselben wie im vorigen Fall, nur geht Weiß
bei der Entfesselung des Springers eine Spur raffinierter vor: 1.Se5-g6!!.
Das Leitmotiv ist die Springergabel auf e7,
gleich ob 1. ... Dd5xf5 oder 1. ... Te7-d7 2.Df5xd5 Td7xd5 folgt.
Mit diesen unangenehmen Alternativen konfrontiert, gab Schwarz auf.
Mit den gezeigten Beispielen sollte die Phantasie
des Lesers genug Nahrung erhalten haben, um für die Praxis
gerüstet zu sein und seine Gegner mit dem einen oder anderen
Entfesselungszug einer gefesselten Figur zu überraschen. Zum
Schluss werden jetzt die Entfesselungsmöglichkeiten der Zielfigur
betrachtet, deren Bedeutung trotz der vergleichsweise geringen Zahl
an Beispielen nicht unterschätzt werden darf.
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Dia 113:
N. N.- Lagerström
Berlin 1958
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1. ... Te1-e3
hatte der Weißspieler sicherlich unter „Längst gesehen“
abgehakt, da es aus der absoluten Fesselung nach 2.Lc4-d3
kein Entrinnen mehr geben sollte. 2. ... Kg6-h5! belehrte
ihn eines Besseren. Nun gab es für den weißen König
kein Entrinnen mehr! Selbst 3.Ld3-e2+ kann das Matt nicht verhindern:
3. ... g5-g4+ 4.Le2xg4 De4xg4+, denn die weiße Dame hängt
ihrerseits in einer absoluten Fesselung.
Zum Abschluss soll noch ein Beispiel folgen,
das den Verfasser als Glückspilz in einer wahren Tragikomödie
zeigt.
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Dia 114:
Kraus - Bergmann
Münster 1991
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Für diese Stellung
hatte ich folgende Variante vorbereitet: 1.Tc1xc8 Tf8xc8 2.Le4xd5
Lb7xd5 3.Td1xd5 (der e-Bauer ist gefesselt!) Tc8-c1+ 4.Sf3-e1.
Nach-dem sich die beiden Entfesselungsversuche 4. ... De7-b4 5.Td5-d8+
und 4. ... f7-f6 5.De5-e2 als untauglich erwiesen, spielte ich in
der freudigen Erwartung, dass die Fesselung ausnahmsweise für
mich arbeiten würde, 1.Tc1xc8. Aber wie Prof. Euwe
einmal schrieb: „In dieser Variante steckt jedoch eine Natter
im Grase.“
Tatsächlich kam es zu der vorausberechneten
Stellung:
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Dia 115:
Kraus - Bergmann
Münster 1991
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Während mein
Gegner nachdachte, fuhr mir plötzlich der Schrecken in die
Glieder: Was war mit 4. ... De7-f6? Erleichtert stellte ich fest,
dass 5.Td5-c5 ausreichen würde. So konnte ich mich zufrieden
zurücklehnen und der Dinge harren.
Schließlich gab Schwarz, in arger Zeitbedrängnis
und zweifellos vom plötzlichen Stellungsumschwung geschockt,
die Partie auf. Die Umstehenden bemerkten zu Recht, dass 4.
... De7-c7 die Sachlage erheblich geändert hätte, denn
die Bindung des Turms an die Dame und der Dame an den Springer würde
letztendlich die Qualität kosten. Glück gehabt!
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