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Petaj
Das Zeugnis flattert in Petajs Hand, als er mit einer ganzen Kindermeute aus der Schule stürmt. Er läuft auf die niedrige Schulmauer zu, springt und lässt sich fallen. Schnell robbt er die Mauer entlang, um nicht Ziel einer Panzerfaust zu werden. Schwer atmend schaut Petaj zum Gebäude mit den leeren Fensterhöhlen hinüber.
'Sieht fast aus wie meine Schule.' Ihre Patrouille wurde einige hundert Meter entfernt gesprengt. Er hatte Mikal schreien gehört, als der Beschuss losging. Kopflos waren sie auseinandergespritzt.
Petaj erinnert sich an die Ermahnungen der Ausbilder. "Immer zusammenbleiben. Wer sich von der Gruppe entfernt, hat so viel Überlebenschancen wie ein Schneeball in der Hölle." Und jetzt liegt er hier allein im Staub.
Petaj robbt auf den Eingang zu, um das Gelände vor der Schule beobachten zu können. Der Beschuss hat aufgehört, er linst um die Mauer herum. Mit einem Mal ist es sehr still. In diesem Moment erscheint Petaj die ganze Situation unwirklich. Undenkbar, dass hier gerade noch auf ihn geschossen wurde; undenkbar, dass er sich Hunderte Kilometer von zu Hause in Uniform hinter einer Schulmauer vesteckt. Wie ein Stromschlag trifft ihn die Bass-Stimme: "Soldat, wirf dein Gewehr weg und nimm die Hände hinter den Kopf."
Abrupt wendet Petaj den Blick zum Gebäude hinüber, wo die Stimme herkam. Aus den Fensterhöhlen sind ein Dutzend Gewehre auf ihn gerichtet. Er stößt das Gewehr von sich und nimmt die Hände hinter den Kopf. Dann sagt die Stimme: "Und nun steh auf, Soldat." Mühsam rappelt sich Petaj auf, peinlich darauf bedacht, die Hände hinter dem Kopf zu halten. Er zittert am ganzen Körper. Die Bilder, die der Ausbilder ihnen gezeigt hat, sammeln sich in seinem Kopf und lassen sich nicht verscheuchen: Ein verbrannter Unterleib, ein gehäutetes Gesicht. Alles am lebendigen Leib geschehen, hatte der Ausbilder versichert. "Ihr kämpft gegen Bestien. Denkt immer daran", hatte er gesagt.
Nach und nach kommen bärtige Männer in zusammengewürfelten Uniformen aus dem Schulgebäude, die Waffen auf ihn gerichtet. Sie werfen ihm prüfende und doch scheue Blicke zu. Schlagartig wird Petaj klar, dass sie erwarten, ihn sterben zu sehen.
"Bitte. Ich habe nichts gegen euch. Ich wurde gegen meinen Willen hierhin geschickt. Ich hab noch nicht mal einen Schuss abgegeben. Schaut euch mein Magazin an."
"Um so besser, du Hurensohn. Brauchen wir keine eigene Munition, um euch Hasen abzuschießen", entgegnet ihm der Anführer mit der Bass-Stimme. Die Männer lachen.
Petaj entdeckt zwei Jungen, die kaum zehn Jahre alt sein können. Beide tragen ein Gewehr und gucken ihn ernst an.
"Wie heißt ihr? Sagt mir, wie heißt ihr? Ist das eure Schule?", versucht Petaj einen Kontakt herzustellen, doch der Anführer mit der Bass-Stimme geht dazwischen: "Schluss jetzt. Wir haben keine Zeit. Wo ist das Seil?"
Petaj sieht einen Mann mit einer geknüpften Schlinge auf sich zukommen. Er sinkt auf die Knie. "Nein! Nein! Bitte nicht!"
Der Junge, der ein Spielzeugauto auf dem verschlissenen Teppich herumfährt, verstummt.
"Und was passierte dann?", fragt der Reporter.
"Er hat nach seiner Mama gerufen", sagt der Junge leise.
"Und dann?"
"Wir haben ihn am Korb aufgehängt und er hat sich in die Hose gemacht", sagt der Junge noch leiser.
"Am Korb? Ach, du meinst einen Basketballkorb." Der Reporter macht sich Notizen.
"Sagst du mir noch, wie du heißt?"
Der Junge bleibt stumm, schiebt sein Auto über den Teppich, den Blick betont abgewandt von dem Mann.
"Wie heißt du, mein Junge?", versucht es der Reporter noch mal, erhält aber keine Antwort. Er richtet sich auf, geht hinaus auf den Flur, um eine Betreuerin zu suchen. Aus dem lärmenden Nachbarraum stürmt die Leiterin des Kinderheims, rennt ihn fast um.
"Oh, Entschuldigung", sagt sie. "Hat er mit ihnen geredet?"
"Ja, er hat mir die Hinrichtung eines Soldaten geschildert."
"Gut. Er muss darüber reden. Es muss raus aus den Kindern."
"Aber sagen Sie mir noch, wie der Junge heißt."
"Petaj", sagt die Leiterin. "Seinen Nachnamen wissen wir nicht, nur Petaj."
 
Anmerkungen:
Der wahre Kern dieser Geschichte ist ein Zeitungsbericht aus Tschetschenien, in dem ein Korrespondent seine Eindrücke aus einem Kindersoldatenheim schildert. Was ich hier ausprobieren wollte, war der Überblendeffekt und ein Thema im Schulbuchstil anzugehen.
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