1. Richard Brautigan lernt lesen

 
 
Memory was simply painful. The art
created from memory a joy.
Keith Abbott
Richard Brautigan wird am 30.Januar 1935 in Tacoma, Bundesstaat Washington, geboren. Er wächst als Welfare Kid auf, was in meinen deutschen Ohren eine sehr wohlklingende Bezeichnung ist, aber wahrscheinlich bei Amerikanern dieselben Assoziationen weckt wie bei uns Asozialen-Kind, denn darauf läuft's hinaus.
Richard Brautigan muß ohne leiblichen Vater auskommen, seine verschiedenen Stiefväter haben eher merkwürdige Erziehungs- methoden: vom einfachen Verdreschen bis zum Versuch, dem Kind einen Arm zu brechen.
Häufige Umzüge, das Leben in von den Behörden zugewiesenen Wohnungen und eine vergessliche Mutter erzählen die Geschichte eines Außenseiter-Kindes.
Between the ages of six and nine Brautigan was abandoned three times. One afternoon he returned from school and found his mother and sister were gone with all their goods. He stayed in the empty house for week. Some neighbors tracked down his mother, collected bus fare, and sent him back.
Keith Abbott, Downstream from trout fishing in America, S. 101
Wie soll aus diesem Kind ein Schriftsteller werden? Der erste für Richard Brautigan nicht ganz einfache Schritt ist das Lesenlernen.
 
Ich hatte immer Schwierigkeiten mit der Schule, besonders mit der ersten Klasse. Ich wurde der Größte in der ersten Klasse, weil ich ein paarmal durchrasselte. ...
Besonders das Lesen machte mir Schwierigkeiten. Ich kam überhaupt nicht damit zurecht. ...
Ich brachte mir das Lesen bei, indem ich herauszubekommen versuchte, was die Ladenschilder und die Aufschriften auf Lebensmitteln bedeuteten. Ich ging ganz langsam durch die Straße und dechiffrierte angestrengt Sachen wie SAM'S SCHUHREPARATUREN, CAFE UND IMBISS, AL'S TABAKLADEN, REINIGUNG - SCHNELL UND SAUBER ...
Manchmal ging ich zu meinen Sprachstudien in einen Lebensmittelladen. Ich spazierte durch die Gänge und las die Aufschriften auf den Dosen. Auf den Dosen waren Bilder. ... Ich hing oft lange bei den Obstkonserven herum und prägte mir Pfirsiche ein, Kirschen, Pflaumen, Birnen, Orangen und Ananas. ...
Das Schwerste beim Obst war natürlich der Fruchtcocktail.
aus der Kurzgeschichte »Abschied von der ersten Klasse, und dann auf zum National Enquirer« in: Richard Brautigan, Der Tokio-Montana-Express, S. 64ff, Rowohlt
Nach Keith Abbott hat Richard Brautigan mit 12 das Gröbste überstanden. Seine Mutter heiratet nochmal, und dieser Mann nimmt Richard zum Fischen mit. Niemand ahnt die Konsequenzen. Auch sein Verhältnis zur Schule nimmt die Formen eines normalen, aufgeweckten Kindes an, das versteht wie wichtig die Schule fürs Leben ist.
Erinnerungen an Jesse James
Ich weiß noch alle die Tausende von Stunden,
die ich in der Grundschule auf die Uhr geschaut
und auf die Pause oder das Mittagessen gewartet habe
oder darauf, nach Hause zu gehen.
    Warten: auf alles, nur nicht auf die Schule.
Meine Lehrer hätten leicht mit Jesse James
    reiten können,
    wenn man die Zeit bedenkt, die sie mir
    gestohlen haben.
Aus: Richard Brautigan, Die Pille gegen das Grubenunglück von Spring Hill & 104 andere Gedichte, S. 66, Rowohlt
Lesen zu können, das ist für einen kommenden Schriftsteller die halbe Miete, aber es fehlt noch etwas, etwas sehr Wichtiges ...
Weiter mit der zweiten Erdbeere: Richard Brautigan lernt schreiben