|
Bonus-Geschichte
Ohne Phantasie checkst du's hier nie*
Phantasie ist wichtig, vor allem im Ruhrgebiet, vor allem
beim Fußball im Ruhrgebiet. Hier beginnt die Phantasie auf Aschenplätzen
und endet in den Kommerztempeln von Schalke oder Dortmund. Dazwischen
gibt es die größte anzunehmende Ansammlung von Vereinen mit
glorreicher Vergangenheit. Diese Vereine und ihre Fans leben von der Erinnerung
- und selbst zum Erinnern braucht man viel Phantasie.
Zum Beispiel Westfalia Herne: Kann sich jemand vorstellen,
dass so ein Verein um die deutsche Meisterschaft mitgespielt hat? Ja,
wir reden über Fußball. 1959 und 1960 spielte Westfalia in
der Endrunde zusammen mit dem Hamburger SV. Es hat nicht fürs Endspiel
gereicht. Gereicht hat es aber für Borussia Dortmund 1976 vor 25.000
Zuschauern in der zweiten Bundesliga. Der große Aufstiegsfavorit
wurde mit 2:1 nach Hause geschickt. Heutzutage reicht es nur noch für
die Oberliga, Viertklassigkeit. 1.000 Zuschauer und ein 1:0-Sieg gegen
den ungeschlagenen Tabellenführer Borussia Dortmund Amateure im September
2001 waren der letzte Höhepunkt, der die Phantasie der Fans anregte.
Überhaupt: die Fans. Phantasie beim Fußball
ist Sache der Fans. Nach drei Siegen in Serie singen sie von der Meisterschaft,
werden belächelt, doch bald glauben auch die Spieler dran, sagen
aber nix wegen dem Trainer, der immer noch gegen den Abstieg kämpft,
und irgendwann ist die Mannschaft Meister und mit Phantasie fing alles
an.
Trainer sind bekannt für ihre Phantasielosigkeit ("Nur nicht
abheben"), deshalb fliegen sie auch als erstes raus. Wenn ein Trainer
nach fünf Niederlagen hintereinander immer noch was von einer Wende
faselt, wer soll ihm das glauben, wo er doch das schwächste Glied
in der Phantasiekette ist?
Christoph Daum ist ein Paradebeispiel dafür, wie
weit man es als Trainer mit Phantasie bringen kann. Fast wäre er
Bundestrainer geworden, weil er die Phantasie zu einem Verein wie Bayer
Leverkusen brachte. Ein Verein, der einfach nicht Meister werden kann,
weil nie ein Leverkusener Spieler den Satz "Gib mich die Pille"
kapieren wird: zu wenig Phantasie. Inzwischen wissen wir, dass Christoph
Daum einen hohen Preis für seine Phantasie gezahlt hat, auch wenn
er den Stoff angeblich immer umsonst bekam.
Umsonst bekommt man anscheinend auch was bei Rot-Weiß
Essen. Oder wie ist es zu erklären, dass sich sieben- bis achttausend
Zuschauer alle zwei Wochen drittklassigen Fußball in der Regionalliga
Nord antun? Auch hier sind die großen Zeiten lange vorbei: 1955
Deutscher Meister, in den Siebzigern ein paar Jahre erste Liga. Nur 1994
gab's noch einen Ausreißer mit dem Pokalfinale in Berlin. Ansonsten
waren die letzten Jahre geprägt von Lizenzentzügen und belanglosem
Zweit- oder Drittligagekicke. Und was noch schlimmer ist: die Trainer,
die sich dort in den letzten Jahren die Klinke in die Hand gaben, hatten
alle die gleiche phantasielose Handschrift. So war RWE in der Saison 2000/2001
zum ersten Mal seit langer Zeit wieder Spitze im bezahlten Fußball:
fünf 0:0-Spiele in der Hinrunde hatte keine andere Mannschaft in
den ersten drei Ligen zu Stande gebracht.
Bleibt die Frage, warum gehen die Leute trotzdem immer
wieder hin? Vielleicht liegt es an der besonderen Stimmung im Georg-Melches-Stadion.
Das Stadion hat nur auf drei Seiten Zuschauerränge, die jedoch alle
überdacht sind. Die Kapazität ist mit 24.500 nicht sehr groß.
Da reichen schon drei- bis viertausend Zuschauer, um Stimmung in die Bude
zu bekommen.
Vielleicht liegt es auch an der besonderen Fanmentalität.
Die Entscheidung, bei welchem Verein man Fan wird, fällt bereits
in jungen Jahren. Papa schleppt den Kleinen mit ins Stadion und damit
ist er fürs Leben gezeichnet. Da kann ein paar Kilometer weiter noch
so toller Fußball geboten werden - Meisterschaft, Championsleague
inklusive -, Überlaufen gibt's nicht. Man kann woanders mal kucken
gehen, aber das ist ein anderes Spiel - ein Spiel, das man nur mit den
Augen sieht und mit kaltem Verstand analysiert. Das ist nicht der wahre
Fußball, wie man ihn bei seinem Verein erlebt, wo man mit dem Herzen
zusieht und der Verstand weitgehend ausgeschaltet bleibt.
Und schließlich geht man vielleicht auch immer wieder hin, weil
ein Fan von der Hoffnung lebt, von der Hoffnung auf Spiele wie dieses:
RWE lag gegen Werder Bremen Amateure nach 70 Minuten
0:3 zurück und niemand brachte mehr die Phantasie auf, an eine Wende
zu glauben. Die Essener Spieler bemühten sich, aber es war mehr das
Bemühen, das man in einem Arbeitszeugnis findet: "X hat sich
stets bemüht, den an ihn gerichteten Anforderungen gerecht zu werden."
Übersetzt heißt das: Flasche leer.
In der 71. Minute fummelte sich Erwin Koen auf der linken
Seite durch, setzte zu einer seiner hohen Flanken an, die vor allem für
des Gegners Knie gefährlich sind, doch diesmal erreichte sein Ball
ungeahnte Kopfballhöhen. Allerdings war nur Sascha Wolf mitgelaufen,
an dessen letztes Tor sich nur noch die Meckerköpfe in Block M hämisch
erinnerten. Wolf stieg zum Kopfball hoch, köpfte, der Ball flog und
flog und flog und landete im Netz. Einen unendlichen Bruchteil einer Sekunde
lang kapierte niemand im Stadion, was passiert war, dann brach bei den
Essener Fans die Phantasie aus.
Fünf Minuten später machte Wolf das 2:3. Jetzt vibrierte das
Dach über der Fantribüne. Vor lauter Phantasie konnten die Spieler
auf dem Rasen ihren eigenen Schuss nicht mehr hören.
Angriffswelle auf Angriffswelle schwappte gegen das Tor
der Werder Amateure, die wie Uferpflanzen hin- und herschlingerten, doch
der Ausgleich fiel nicht. Chancen im Minutentakt, Latte, Pfosten, Rettung
auf der Linie, alles drin, nur der Ball nicht. Selbst auf der Sitzplatztribüne
hatte die Phantasie alle Zuschauer hochgerissen. Der Schiedsrichter zeigte
noch eine Minute.
Torben Tutas bekam den Ball an der Mittelinie, ließ zwei Gegner
stehen, fummelt sich durch zwei weitere, Kurzpass auf Weber, Schuss, abgewehrt,
Nachschuss, drin. Da flog das Dach der Fantribüne weg.
Der Schiedsrichter ließ den Anstoß noch ausführen.
Die Werderaner verloren sofort den Ball und angetrieben von der alles
verschlingenden Phantasie der Essener Fans sirrten die RWE-Spieler moskitogleich
durch die Bremer Hälfte, trockener Schuss aus 18 Metern: 4:3. Da
flog das Dach der Sitzplatztribüne weg.
Den Schlusspfiff wartete ich gar nicht mehr ab, sondern schwang mich vom
Sofa, ging hinüber zum Schreibtisch und schrieb diesen Tagtraum auf.
Was für ein Spiel!
Trotzdem frag ich mich, ob ich zum nächsten Heimspiel
überhaupt hingehen soll. Was ist, wenn's plötzlich regnet? Soll
ich mir einen nassen Hintern holen - jetzt, wo keine Dächer mehr
über den Tribünen sind?
* Der Titel stammt aus einem Lied über das Ruhrgebiet von Anfang
der 80er Jahre. Leider reicht meine Phantasie nicht aus, mich zu erinnern,
wer es gesungen hat.
~~~~~
|
||
|
|